Der Pfarrbezirk Marburg - Treisbach - Warzenbach

Zur Geschichte der drei Gemeinden Marburg/ Treisbach/ Warzenbach


Seit vielen Jahren bilden drei kleine Kirchengemeinden einen gemeinsamen Pfarrbezirk.In der Stadt Marburg existiert seit 1876 eine lutherische (früherer Name: renitente) Gemeinde, Zur Stadt Wetter gehören die weiteren Gemeinden in  Warzenbach (seit 1877)und Treisbach (seit 1874).
Das Besondere dieses Pfarrbezirkes ist es, dass einerseits die drei Gemeinden aufgrund ihrer langen gemeinsamen Geschichte eng miteinander verbunden sind und andererseits sich die Gemeindearbeit in zwei Bereiche aufgliedert, nämlich in den Bereich Treisbach/Warzenbach und den Bereich Marburg.  Dennoch werden für alle drei Gemeinden immer wieder gemeinsame Aktivitäten oder Projekte angeboten.
Die drei Gemeinden sind aufgrund einiger kirchengeschichtlich relevanter Ereignisse in Deutschland in den 70 und 80er Jahren des 19.Jahrhunderts entstanden. Sie gehören heute zur sogenannten SELBSTÄNDIGEN EVANGELISCH-LUTHERISCHEN KIRCHE (Abkürz.SELK)  Weitere Informationen zur SELK finden Sie auf unserer Homepage oder unter www.selk.de


Geschichtliche Aspekte der Entstehung der sog. „Hessischen Renitenz“
Manfred Holst
Die Entstehung altlutherischer und sog. „renitenter“ Gemeinden in Hessen sind untrennbar mit den politischen und kirchlichen Entwicklungen des 19.Jahrhunderts verbunden. Das vorletzte Jahrhundert war eine Zeitepoche die bestimmt war von Umbrüchen sowohl im Inneren Deutschlands als auch von Aufbrüchen in die weite Welt. Die Zeit von 1815-1918 wird als Zeitalter des Nationalismus beschrieben. Von den europäischen Staaten und Ländern breiteten sich „Machtwille und Besitzgier über den ganzen Globus“ (Gelebte Liebe und deutliche Worte, S.5) aus.
Die heutige SELK, zu der unsere Gemeinde gehört, hat ihre geschichtlichen Wurzeln in dieser Zeit des 19.Jahrhunderts. Daneben ist die Geschichte der SELK und der Hessischen Renitenz nicht ohne die Reformation Martin Luthers und die Hochschätzung der Alten Kirche und ihrer Bekenntnisse (Apostolisches und Nizänisches Glaubensbekenntnis) zu verstehen.
Insofern ist es für das Verstehen dieser kirchlichen Entwicklung einer lutherischen Bekenntniskirche von Bedeutung, nicht erst mit dem Jahr 1873, dem Ursprungsdatum der hessischen Renitenz, zu beginnen, sondern nach den Ereignissen und den geschichtlichen Bewegungen im Vorfeld dieser Jahre zu fragen.
Hier sind vor allem die Erweckungsbewegungen zu nennen, in der Christen, Gemeinden und Pfarrer auf die Veränderungen und Infragestellung biblischer Wahrheiten durch die Aufklärung und den Rationalismus reagierten. Im Zuge dieser Er­weckungsbewegungen erwachten an vielen Orten Interesse und Liebe für die Innere und Äußere Mission.
In vielen deutschsprachigen Gebieten kam es aufgrund der Einführung der „Union“ (d.h. der Vereinigung von lutherischer und reformierter Kirche) ab 1830 (1817-1830 in Preußen; 1873/1874 in Hessen und 1851 in Baden) zu ersten Gemeindebildungen, die jedoch ursprünglich nicht beabsichtigt und gewollt waren. Der Weg in die Selbständigkeit wurde aufgrund staatlicher Repressalien bewusst mit allen Konsequenzen in Kauf genommen.
In dieser Entwicklung kam es auch zu einem neuen Verstehen dessen, was Kirche ist und welche grundlegende Bedeutung das Bekenntnis und die Kirchenordnung für das kirchliche Leben haben.
Der Begriff „Renitenz“ war zunächst eine abwertende Bezeichnung derjenigen Gemeindeglieder und Pfarrer innerhalb der hessischen Kirche, die sich gegen eine Union der Kirchen gewandt haben.
In dieser neuen kirchlichen Richtung hat vor allem August I. C. Villmar gestanden und gewirkt. Er ist der geistige und geistliche Vater der Renitenz, die er jedoch im Jahr 1873 nicht mehr erlebte.
August Vilmar hatte, als er persönlich zum Glauben kam, in dem Grundbekenntnis der hessischen Kirche - in der Augsburgischen Konfession (CA) - das ausgesagt gefunden, was er glaubte und bekannte. Seitdem sah er im lutherischen Bekenntnis eine "Mauer" gegen Unglaube und Rationalismus. Außerdem wurde ihm bei seinem Studium der CA deutlich, dass die Ausübung des Kirchenregiments durch den Landesherrn nicht mit Artikel 16 und 28 der CA in Einklang stand. Was in der Vergangenheit als Notordnung in der Geschichte der evangelischen Kirchen getragen worden war, konnte für die Zukunft nicht bestehen bleiben, da davon auszugehen war, dass in Zukunft staatliche Ämter auch von Nichtchristen übernommen werden könnten, die dann ihrerseits von Amts wegen über innere Angelegenheiten der Kirche zu befinden hätten. Infolgedessen forderte Vilmar die Ab­lösung der Kirche vom sogenannten "religionslosen Staat" und die Selbstregierung und Selbstverwaltung der Kirche durch das geistliche Amt. Unter seiner Führung stellten bereits 1849 auf der Jesber­ger Konferenz lutherische Pfarrer Anträge auf Aufhebung des landesherrlichen Summepiskopats an die kurfürstliche Regierung.
Die meisten der späteren renitenten Pfarrer in Niederhessen, wie auch in Ober­hessen und im Großherzogtum Hessen waren als seine Schüler von ihm beeinflusst. Im Jahre 1866 kam es zur Annexion Hessens durch Preußen, was für die „renitenten“ Pfarrer bedeutete, sich verstärkt für die kirchlichen Rechte einzusetzen und gegen die faktische und rechtliche Unionisierung der Landeskirche zu kämpfen.
Unter preußischer Herrschaft wurde 1873 ein neues Gesamtkonsistorium unierter Prägung und später eine neue Presbyterial- und Synodalordnung eingeführt. Daraufhin formulierten 46 Pfarrer im Juli 1873 eine Eingabe an den König, den sogenannten "Julipro­test", die grundlegende Urkunde der hessischen Renitenz. Wilhelm Vilmar war einer der ersten, die daraufhin von der Amtsenthebung betroffen waren. In einer "Offenen Erklärung" lehnten die abgesetzten Pfarrer die Anerkennung ihrer Suspension freilich ab.